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Weihnachtsgeschichte: Ein Licht für Mama

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Liebe und ein warmes Licht können an kalten Tagen Hoffnung spenden.
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AutoreninfoSylvia Koppermann
aktualisiert: 24.11.2014Mehrfache Mutter u. Autorin
Medizin, Gesundheit und Erziehung

Von der Liebe eines Kindes zu seiner Mutter

Lautlos fielen die Schneeflocken aus dem Wolken verhangenen Himmel und purzelten zur Erde. Es glich einem fröhlichen Tanz der Kristalle, die die Welt unter eine weiche, weiße Decke hüllten. So friedlich und still.

Marie drückte sich die Stupsnase an der Scheibe ihres Zimmerfensters platt und beobachtete den Reigen der fallenden Flocken. Letztes Jahr, als der erste Schnee fiel, hatte sie auch hier gesessen. Zusammen mit Mama. Sie hatten gelacht, auf einzelne Schneeflocken gezeigt und sich vorgestellt, was diese auf ihrer Reise zur Erde wohl singen oder sich zurufen. Während Marie die Augen schloss, glaubte sie, die Nähe ihrer Mutter spüren zu können, hörte ihr Lachen, ihre Stimme, erinnerte sich an die Worte und es war ihr, als könnte sie, wie damals, den Duft der Plätzchen im Ofen riechen.

Für einen Moment lächelte das Mädchen, doch dann stahl sich eine Träne aus seinem Augenwinkel. Erst nur eine einzelne Träne, der schließlich weitere folgten. Mama. Es schien so lange her. Das Herz des Kindes zog sich zusammen, so sehr vermisste es seine Mutter.

Die Mutter fehlt

Unten im Haus knallte eine Tür. Marie hörte die wütende Stimme ihres älteren Bruders Tom. Er stritt sich mit dem Vater. Wie so oft in den letzten Monaten. Seitdem Mama weit weg in der Klinik war, stritten Papa und Tom ständig. Hatte er auch das Telefongespräch zwischen Papa und Oma belauscht? Am liebsten wäre Marie zu Tom gegangen, hätte sich in sein Zimmer geschlichen, wo er oft mit im Nacken verschränkten Armen auf dem Bett lag und Musik hörte, um sich in seine Arme zu kuscheln.

Aber seitdem Mama weg war, schloss Tom seine Zimmertür ab. Er ließ niemanden mehr zu sich rein. Nicht den Vater und auch nicht Marie. Leise schlich das Mädchen zur Treppe und schaute durch die Sprossen des Geländers hindurch nach unten. Die breite Tür vom Wohnzimmer stand offen und Marie sah ihren Vater auf dem Sofa sitzen, den Kopf schwer in in die Hände gestützt. Er weinte, doch sie wusste, ginge sie jetzt zu ihm, würde er sich hektisch die Tränen fort wischen, gequält lächeln und so tun, als sei alles in Ordnung.

Bedrückte Stimmung im ganzen Haus

Sie wollte nicht, dass Papa immer fröhlich tat, während seine Augen die Traurigkeit zeigten. Warum log er, wenn sie doch wusste, dass es Mama sehr schlecht ging? So ging sie lautlos zurück in ihr Zimmer, beachtete nicht die dröhnende Musik, die jetzt aus Toms Zimmer scholl und krabbelte zurück auf die breite Fensterbank.

Heute vor einem Jahr hatte es auch geschneit, zu ersten Mal, und es lag noch nicht so viel Schnee, wie jetzt. Mama hatte eigentlich keine Zeit gehabt, sich zu Marie ans Fenster zu setzen. Der Tag vor Heiligabend war immer mit vielen Vorbereitungen verbunden, die Mama laut und nicht immer ganz den Ton treffend, Weihnachtslieder singend, verrichtete.

Weihnachten hat Rituale

Jedes Jahr, solange Marie zurückdenken konnte, war der Tag vor Heiligabend wie ein Ritual. Mama buk und kochte, sang, tanzte und lachte dabei, dass auch Tom und Marie von ihrer guten Laune angesteckt wurden und dann kam Papa nach Hause, den Weihnachtsbaum hinter sich her ziehend und nach seinem großen Sohn rufend, der ihm helfen sollte, diesen störrischen Baum aufzustellen.

In diesem Jahr buk niemand in diesem Haus. Und Papa kaufte keinen frischen Baum. Im Wohnzimmer stand ein kleines, künstliches Bäumchen. Es war hübsch, aber nicht so, wie die prachtvollen Weihnachtsbäume, die sie immer hatten, als Mama noch hier war.Erneut liefen Marie Tränen übers Gesicht. Sie wollte das Telefonat von Papa eigentlich nicht belauschen. Ganz plötzlich war ihr vorhin eine Idee gekommen, von der sie nicht wusste, ob sie umsetzbar war.

Gibt es Hoffnung für Mama?

Ob sie wohl ein paar Plätzchen backen und Mama bringen konnten? Also lief sie aufgeregt zur Treppe und erstarrte, als sie Papas Schluchzen am Telefon hörte. Er versuchte leise zu sprechen und war doch zu aufgeregt, zu verzweifelt. "Sie gibt sich auf..." hörte Marie den Vater stammeln "...die Ärzte sagen, wenn sie nicht mehr kämpfen will, kann die ganze Therapie nur wenig bewirken."

Noch immer versuchte Marie zu verstehen, was Papa damit meinte. Wollte Mama etwa nicht mehr gesund werden und zurückkommen? Jeden Mittwoch und Sonntag telefonierten Marie und Mama miteinander. Nur kurz, weil, wie Papa sagte, das Sprechen Mama zu sehr anstrengte. Und das merkte auch Marie, denn in den letzten Wochen war Mamas Stimme immer schwächer geworden. Sie versuchte fröhlich zu klingen, fragte Marie, wie es ihr in der Schule erging, was die Freunde machten... Und das Mädchen bemühte sich ebenfalls unbeschwert zu klingen, log sogar und erfand Abenteuer, die es mit den Freunden erlebte. Nein, Marie wollte nicht lügen, aber sie wollte auch nicht, dass Mama sich Sorgen machte. Und die hätte sie sich sicher gemacht, wüsste sie, dass Marie kaum noch zum Spielen hinaus ging. Sie wollte nicht fröhlich sein, wenn weit weg ihre Mutter darum kämpfte, leben zu dürfen.

Vor einem Jahr war die Welt des Mädchens noch in Ordnung

Sie veränderte sich erst im Sommer.Anfangs schien Mama sich nur eine Erkältung eingefangen zu haben. Trotz Zwiebelsaft, heißem Holunder und Pellkartoffelwickeln wurde es nicht besser. Im Gegenteil, Mama bekam Fieber und obwohl Papa sie immer wieder ermahnte, doch endlich zum Arzt zu gehen, glaubte sie noch, mit Ruhe und Tee die Krankheit auskurieren zu können. Es schien, als behielte Mama Recht. Sie wurde wieder gesund. Und dann kam dieser Tag, nur wenige Wochen später, als Marie mittags vor der Schule stand und Mama sie nicht abholte.

Die anderen Kinder waren längst gegangen, als Frau Sölinger, Maries Musiklehrerin, sie durch Zufall an der Straße stehen und warten sah. Frau Sölinger versuchte vom Sekretariat aus Mama anzurufen, aber sie ging zu Hause nicht ans Telefon. Auch nicht an ihr Handy. Also rief die Schule bei Papa an. Er konnte von der Arbeit nicht weg, wusste aber, dass Tom bald Schulschluss hatte und verständigte ihn, damit er Marie abholen und nach Hause bringen konnte. Tom war es, der Mama in der Küche fand. Sie lag am Boden, die Einkäufe, die sie noch ins Haus getragen hatte, waren über den Boden verstreut und Tom rief voller Panik einen Rettungswagen. Marie stand wie erstarrt in der Küchentür. Um sie herum waren Sanitäter damit beschäftigt, auf Mama einzusprechen, die langsam zu sich kam und sehr schwach war. Man legte ihr einen Tropf, legte sie auf eine Bahre und trug sie zum Rettungswagen. Einer der Sanitäter klopfte Tom aufmunternd auf die Schulter und lobte ihn, er habe alles richtig gemacht, doch auch Tom starrte nur zu Mama, die man aus dem Haus trug und in die Klinik fuhr.

Zunächst erholte Mama sich rasch, kam aber nicht wirklich wieder zu Kräften. Viele Wochen lag sie in der Klinik und dann kam Papa heim, rief seine Kinder, um ihnen zu sagen, dass man bei Mama eine Krankheit festgestellt hatte, die ihr Immunsystem angriff. Mama musste in eine andere Klinik verlegt werden, weit weg und durfte dort keinen Besuch empfangen, denn jeder Besucher konnte Keime mitbringen, die für Mamas Immunsystem gefährlich waren. Viel verstand Marie nicht von dem, was Papa ihnen zu erklären versuchte. Nur, dass Mama sehr lange krank sein würde und sie sich nicht sehen konnten.

Eine Ohrfeige für Tom

Als Papa und Tom sich eines Tages wieder laut stritten, schrie Tom den Vater an, er sollte aufhören ihn zu belügen. Er wüsste genau, dass Mama vielleicht stirbt. Papa tat etwas, worüber Marie bis heute erschrocken war. Er schlug Tom ins Gesicht und brüllte, dass er nie wieder so etwas sagen dürfe. Noch nie hatte Papa Tom oder sie geschlagen. Und es tat ihm auch in dem Moment bereits wieder leid. Er wollte sich bei Tom entschuldigen, doch der rannte nur hinaus, schlug die Tür seines Zimmers zu und schloss sich ein.

Fast drei Monate hatte Marie ihre Mama nun nicht mehr gesehen. Das Mädchen sehnte sich so sehr nach ihr. Am schlimmsten war, dass Mama nicht bei Maries zehnten Geburtstag dabei sein konnte. Sie telefonierten an diesem Tag und Mama versuchte Marie nicht merken zu lassen, dass sie weinte, weil auch sie traurig war, ihre Tochter nicht einmal zum Geburtstag in den Arm nehmen zu können.Morgen würde Heiligabend sein. Das erste Weihnachtsfest ohne Mama. Aber Marie hatte all die Wochen immer wieder tapfer darüber nachgedacht, dass dieses eine Weihnachten zu überstehen sei, wenn Mama nur gesund werden würde und sie im nächsten Jahr wieder zusammen wären. Doch dann hatte sie vorhin das Gespräch des Vaters, am Telefon, mitangehört und sie wusste, wenn Mama sich aufgab, würde sie niemals zurückkehren können. Nein, Marie musste etwas tun, um Mama zu zeigen, dass sie an sich glauben und kämpfen musste und sie wusste auch, dass Papa sie nicht tun lassen würde, was sie plante. Seit Mama krank war, hatte er so große Angst, dass ihr und Tom etwas geschehen könnte. Aber das Mädchen konnte nicht hier sitzen bleiben und abwarten.

Eine Idee nimmt Formen an

Es musste Mama etwas zu Weihnachten bringen: Hoffnung und den Glauben daran, wieder gesund zu werden.Als Papa ins Bett ging, lag Marie noch wach im Bett. Er sah nach ihr und sie stellte sich schlafend. Doch kaum hatte er die Tür zum Schlafzimmer geschlossen, schlich Marie hinunter ins Arbeitszimmer. Sie wusste, dass dort ein Prospekt auf dem Schreibtisch lag, das Bilder von der Klinik zeigte, in der Mama lag und die Station beschrieb. Auf der Rückseite stand auch die Adresse, die Marie brauchte. In der Küche packte sie sich ihre Lunchbox mit etwas Obst und einer Scheibe Brot, klemmte sich eine Flasche Mineralwasser unter den Arm und suchte dann im Esszimmer nach einer der Kerzen, die Mama immer für besonders festliche Anlässe in der Anrichte aufbewahrte.

Zurück im Zimmer, packte Marie alles in ihren Rucksack, legte sich warme Kleidung heraus und ging dann zu ihrem Schreibtisch, auf dem ihre Spardose stand. Seit über einem Jahr hatte sie dort immer die Hälfte ihres Taschengeldes gespart. Fünf Euro, jeden Monat, plus das Geburtstagsgeld der Omas. Ein neues Fahrrad wollte sie sich kaufen, so eines, wie ihre Freundin Pia hatte, mit einem glitzernden Rahmen und den lustigen Perlen an den Speichen. Einen Moment verharrte Marie in Gedanken. Wie wichtig war ihr dieses Fahrrad doch noch vor wenigen Monaten gewesen. Und nun schämte sie sich fast, nur an das Glitzern gedacht zu haben, während Mama bereits krank war und um ihr Leben kämpfte.Seufzend griff sie nach der Sparbüchse, holte den Schlüssel aus der Schublade und öffnete das Schloss am Boden der Dose.

Marie schüttelte. Raschelnd fielen Scheine heraus, Münzen purzelten über die Tischplatte und kullerten zu Boden. Eilig sammelte das Mädchen das Geld ein und begann zu zählen. Ein richtiges Vermögen lag dort vor ihm, aber würde es reichen, um zu Mama zu kommen? Es musste auch nur für die Hinfahrt reichen. Wie Marie zurück kam, war ihr jetzt unwichtig. Es zählte nur, dass sie nah bei Mama sein und ihr zeigen wollte, dass sie sie nicht vergessen hatte.

Die Reise zu Mama

Für ein paar Stunden kuschelte sie sich noch einmal in ihr Bett, aber vor Aufregung konnte sie nicht wirklich schlafen.Es war noch dunkel und der Wecker hatte nicht einmal klingeln müssen, als Marie bereits aus dem Bett war. Sie schob das Kissen unter die Decke, holte ein paar der Stofftiere aus dem Regal in der Ecke und drapierte alles so, dass Papa denken würde, sie schliefe noch tief und fest in ihrem Bett, wenn er, in ein paar Stunden, nach ihr sah. Mit dem Rucksack über der Schulter, warm eingepackt und das Geld im Brustbeutel unter der Jacke, schlich Marie leise aus dem Haus. Vor der Haustür verharrte sie einen Moment und schielte hinauf zum Schlafzimmerfenster. Würde dort gleich Licht angehen, weil Papa etwas gehört hatte und aufwachte? Aber es blieb dunkel. Erleichtert schlüpfte Marie nun mit den Armen durch beide Gurte des Rucksacks und stapfte durch den frisch gefallenen Schnee. Es hatte aufgehört zu schneien und die Dunkelheit zeigte einen klaren Himmel voller Sterne. Bald würde es hell werden. Dann wollte das Mädchen bereits weit weg sein, damit Papa es nicht aufhalten und zurückholen konnte.

Der Weg zur Bushaltestelle war nicht weit. Hoffentlich käme bald einer der Busse, die regelmäßig in die Innenstadt fuhren. Es war bitterkalt und schon dachte Marie, dass heute vielleicht gar keine Busse fahren würden, weil doch Heiligabend war, als neben ihr der Bus hielt und die Türe sich öffnete. „Fahren Sie in die City?“ fragte das Mädchen selbstbewusst und als der Fahrer nickte, stieg es ein, löste ein Ticket und nahm hinten Platz. In der Innenstadt stieg Marie am Busbahnhof aus und sah sich ein wenig hilflos um. So viele Haltestellen, jede mit Schildern, auf denen Nummern angezeigt wurden, Tafeln mit Streckenbeschreibungen hingen und verwirrend wirkten. Es dauerte eine Weile, bis sie die Haltestellen für die Fernbusse gefunden hatte und dann endlich stand sie an der, von der aus der Bus fahren würde, der sie in die Stadt bringen würde, wo Mama in der Klinik lag. Ein Stück entfernt war der Fahrkartenautomat. Marie stellte sich in dessen Nähe und beobachtete einen Mann, der sich ein Ticket zog. Dann reckte sie sich empor, tippte auf die Tasten, mit denen sie das gewünschte Ziel auswählen konnte und schob das Geld für den Fahrschein in den Geldeinwurf. Es ratterte kurz und dann fiel das Ticket heraus. Stolz und voll glücklichem Staunen hielt Marie es in den Händen, las den Namen der Stadt und flüsterte leise „Mama, ich komme!“.

Niemand achtete auf das Mädchen, als es knapp eine Stunde später in den Bus stieg und sein Ticket stempelte. Die Fahrt dauerte lange. Papa hatte einmal erklärt, dass es bis zur Klinik eine Stunde Fahrt mit dem Auto wäre. Aber der Bus fuhr durch viele kleine Orte und war erst nach dem Mittag am Ziel. Marie stieg aus und war verunsichert.

Allein in der Fremde

Wo ging es nun zur Klinik? Nah dem Busbahnhof befand sich ein Informationsschalter mit einer großen Karte der Stadt. Doch so sehr Marie sich auch bemühte, fiel es ihr schwer, die Karte zu verstehen. So stieg sie versehentlich in einen Bus, der sie an den Stadtrand brachte und als sie merkte, dass die Klinik nicht hier war, setzte sie sich weinend auf die Bank der Haltestelle. Nun war sie so weit gekommen und fand die Klinik nicht. Der Nachmittagshimmel verdunkelte sich bereits und bald würde der heilige Abend beginnen, ohne dass das Mädchen Mama wirklich nah war.

Wie lange Marie da gesessen und geweint hatte, wusste sie nicht. Sie fror, hatte Hunger und fühlte sich schlecht, ja schuldig, als hätte sie versagt. Irgendwann ließ sich eine ältere Frau auf die Bank neben Marie fallen, sah das Kind an und lächelte, während sie eine Packung Taschentücher aus der Manteltasche zog und Marie reichte. „Heute ist Heiligabend und Du weinst?“ fragte die Dame und Marie schnäuzte sich geräuschvoll. Schluchzend und stockend stammelte sie, dass sie ihrer Mama, die in der Klinik lag, ein Freude bereiten wollte und nun die Klinik nicht finden konnte. „In welcher Klinik ist Deine Mutter?“ fragte die alte Frau und Marie durchwühlte ihren Rucksack, um ihr das Prospekt zu zeigen. Die Dame lächelte. „Da hast Du Dich in der Tat ordentlich verlaufen!“ sprach sie gütig. „Aber ich werde Dir helfen, doch noch ans andere Ende der Stadt zu kommen. Der nächste Bus fährt wieder in die City. Komm mit, dann zeige ich Dir dort die Haltestelle, die Dich direkt zu Klinik bringt.“

Sie streichelte Maries Wange, drückte das Mädchen kurz an sich und deutete die Straße hinunter, auf den Bus, der gerade kam. Die freundliche alte Frau hielt Wort. In der Innenstadt nahm sie Marie an die Hand, führte sie zu einer der vielen Haltestellen und zeigte ihr, auf der Streckenbeschreibung, an der wie vielten Haltestelle Marie aussteigen müsste. „Du kannst die Klinik nicht verfehlen", zwinkerte sie noch, als Marie schließlich in den richtigen Bus stieg. Und endlich war das Mädchen am Ziel seiner langen Reise.

Am Krankenhaus angekommen

Marie stand vor dem riesigen Klinikum und staunte. So viele Gebäude, Anbauten, Nebengebäude,... Es sah aus, als wäre die Klinik eine eigene Stadt. Wie sollte sie hier ihre Mutter finden? Eingeschüchtert betrat sie das Hauptgebäude und starrte auf die große Informationstafel. So viele Begriffe, Abkürzungen und Pfeile. Wieder traten Marie die Tränen in die Augen. Mit dem Prospekt in der Hand stand sie da und wusste nicht weiter, während um sie herum nur noch wenige Menschen durch die Halle eilten. Wer nicht gezwungen war, in der Klinik zu sein, wollte schnell nach Hause, um Weihnachten zu feiern.

Als ein Mann mit einer blauen Hose und Blauen Hemd an ihr vorbei eilen wollte, fasste Marie all ihren Mut zusammen und sprach ihn an. Dabei hielt sie das Prospekt in der Hand, deutete auf die Notiz, die Papa auf die Rückseite geschrieben hatte, um sich die Station und Zimmernummer von Mama zu notieren. „Entschuldigung, könnten Sie mir bitte helfen? Ich möchte meine Mama besuchen“, fragte sie den Mann beherzt und tatsächlich blieb er stehen, beugte sich zu Marie hinunter und nahm ihr das Prospekt aus der Hand. Er lächelte mitleidig und erklärte, wo das Gebäude sei, das Marie suchte, aber dass sie nicht auf diese Station gehen dürfe, weil dort nur Patienten lagen, die streng isoliert werden mussten, um ihre Gesundheit nicht zu gefährden. Traurig sah Marie zu Boden. Alles umsonst. Der ganze weite Weg. Nicht einmal kurz würde man sie zu Mama lassen.

Der Mann überlegte kurz. „Ich kann Dir nicht helfen, zu Deiner Mama aufs Zimmer zu kommen, aber vielleicht kann ich Dir zeigen, wo das Fenster ihres Zimmers ist. Dann weißt Du wenigstens, wo sie liegt. Warte kurz, ich rufe auf Station an.“ Und er verschwand hinter einer Tür, die zu den Verwaltungsräumen führte. Nach kurzer Zeit kam er lächelnd zurück und erklärte Marie den Weg zum richtigen Gebäude, wie sie zur Hinterseite gelangte und dort einen Brunnen finden würde. Von diesem aus, auf das Gebäude schauend, könnte sie das Fenster zum Zimmer ihrer Mutter im ersten Stock sehen. Das zweite große Fenster von links. Kaum hatte der Mann ausgesprochen, lief Marie los, drehte sich noch einmal um und rief mit einem Lächeln „Dankeschön!“ und war im nächsten Moment bereits an einem der Seitenausgänge, der zu einer Art Park führte, den Marie nur durchqueren musste, um direkt zu dem Gebäude zu kommen, in dem Mama lag.

Das Fenster zu Mama

Wie ihr erklärt wurde, ging sie um das Gebäude herum, stellte sich neben den Brunnen und drehte sich der Fensterfront auf der Rückseite zu. Da war es, das Fenster, in dem ein gedämpftes Licht brannte. Dort war ihre Mama. Und sie ahnte nicht, dass hier Marie stand, inmitten des frisch gefallenen Schnees und zu ihr hinauf sah. Unschlüssig, was sie jetzt tun sollte, sah Marie einen langen Augenblick zum Fenster hinauf. Sie konnte doch nicht einfach schreien und nach Mama rufen.Da fiel ihr die Kerze ein, die sie Mama eigentlich bringen wollte. Am Fuße des Brunnens durchwühlte sie den Rucksack, zog die dicke Kerze heraus, fand schließlich auch die Streichhölzer und versuchte ein Hölzchen zum brennen zu bringen.

Eine Kerze der Hoffnung

Dann endlich, nach dem vierten Versuch, gelang es ihr und das Streichholz entzündete den Docht. Für einen Moment schützte Marie die Flamme, damit sie nicht gleich wieder ausging, doch dann brannte die Kerze und warf ihren Lichtschein über die Schneedecke. Vielleicht würde Mama Marie nicht sehen können, aber sie war dennoch hier und würde mit all ihrer Kraft an Mama denken, in der Hoffnung, dass Mama dann wieder Kraft bekäme, sich nicht aufzugeben. Schneeflocken fielen und leise begann Marie zu singen. Das Lied, das Mama so liebte und immer mitgesungen hatte. Das Lied, von dem sie Marie erzählt hatte, dass es für jemanden gesungen wurde, als Dankeschön für all die Liebe und Kraft, die dieser Mensch gegeben hat. Erst leise und zaghaft, stimmte Marie „You raise me up“ an, sah dabei zum Fenster ihrer Mama auf, bemerkte nicht die Schneeflocken, die auf ihr Gesicht fielen und schmolzen. Immer selbstbewusster und fester wurde die Stimme des Mädchens und als das Lied endete, begann Marie von vorn. Diesmal kräftiger und lauter, mit Glocken heller Stimme, so, wie sie immer mit Mama zusammen gesungen hatte und nicht einen Moment ließ sie das Fenster aus den Augen.

So stand Marie am heiligen Abend im Schnee, die Kerze in der Hand, deren Licht hell erstrahlte und sang immer wieder. Für ihre Mama. In anderen Fenstern öffneten sich Gardinen und ein paar wenige Leute, die das Mädchen hörten, traten neugierig durch den Hintereingang der Klinik. Gerührt standen sie da, sahen das Kind mit der Kerze, wie es so das Herz berührend zu dem Fenster hinauf sang und sie spürten, dass hier etwas ganz besonderes passierte. Einer der Haustechniker eilte zurück ins Gebäude und kam kurz darauf mit ein paar Kerzen wieder heraus. Er zündete eine davon an, gab auch den anderen Menschen, die nun immer zahlreicher und neugierig herankamen, Kerzen ab und gemeinsam schritten sie über die verschneite Wiese, brennende Kerzen in den Händen, stellten sie sich hinter Marie, auf dass das Licht noch heller und strahlender werden konnte. Einige summten die Melodie mit, Tränen liefen über die Wangen der Menschen, die nun gemeinsam mit dem Mädchen zum Fenster hinauf blickten.

Und dann bewegte sich die Gardine, Umrisse einer Frau wurden erkennbar und dann erkannte Marie die Silhouette ihrer Mutter. Mama stand da, die Hände an die Scheibe gepresst, mit leicht schrägem Kopf und Marie konnte das Gesicht ihrer geliebten Mama endlich sehen. Nach so langer Zeit wieder. Sie war dort oben, sah auf ihr kleines Mädchen, das mit seiner Kerze stand, umringt von den fremden Menschen, die alle ein Licht hielten und Marie sang. Jeder Ton ein Wunsch an ihre Mama, nicht aufzugeben, jedes Wort Ausdruck der Liebe. Wie oft Marie dieses Lied bereits gesungen hatte, vermochte sie nicht sagen. Es spielte keine Rolle, solange Mama dort oben stand und ihr zuhörte.

Mit schnellen Schritten kamen zwei weitere Menschen aus dem Gebäude, stockten, starrten auf Marie, folgten dem Blick des Mädchens zu Fenster und brauchten einen Moment, um sich zu fassen. Sie sahen einander an, fassten sich an den Händen und liefen zu Marie, knieten links und rechts neben sie, umarmten das Mädchen und stimmten mit ein. Und vom Fenster aus, sah die Mutter nun ihre Familie. Ihren Mann, den Sohn und ihre Tochter. Wie hatte sie sie vermisst, wie oft an sie gedacht und mit jedem Tag mehr die Hoffnung verloren, sie wiederzusehen.

Nun waren sie da. Am Weihnachtsabend und brachten das größte Geschenk. Ihre Liebe.

Liebe überwindet alle Grenzen

Als die Kerzen weit herunter gebrannt waren, Marie längst nicht mehr sang, sondern alle nur noch einander ansahen, hob die Mutter ihre Hand. Zeigte zuerst auf sich, legte die Hand aufs Herz und wies dann auf ihre Familie. „Ich liebe Euch!“, flüsterte sie und die drei geliebten Menschen sagten auch ihr leise, dass sie sie lieben. Mama nickte und lächelte, dann trat sie vom Fenster zurück und zog die Gardine zu.

Papa und Tom beugten sich zu Marie und umarmten sie fest. Als sie bemerkten, dass Marie verschwunden war, hatten sie sich unendliche Sorgen gemacht und angefangen, sie zu suchen. Erst mittags war Vater dann durch Zufall aufgefallen, dass das Prospekt fehlte und die Spardose geplündert war. Und so fuhren Papa und Tom los, um Marie hier zu suchen, wo sie sie ja auch fanden. Es gab keine Vorwürfe, keine Schelte. Alle waren froh, Marie wiedergefunden zu haben. Und ein wenig stolz, denn sie hatten im Gesicht der Mutter neue Hoffnung entdeckt.

Was auch immer geschehen würde, so gab Mama sich nun nicht mehr auf. Sie würde kämpfen, um wieder gesund zu werden. Niemand konnte sagen, ob sie die Krankheit besiegen würde, aber alle wussten nun, dass sie sich ihr zumindest nicht kampflos ergeben würde.

[SyKo]

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